Ein Interview mit vier Protagonisten

„Wenn wir uns schlecht fühlen, gehen wir fort und kommen danach wieder.“
Über die Kunst, in Bulgarien Tanzstücke zu machen
Ein Interview mit vier Protagonisten

 


Galina Borissova und Mila Iskrenova zählen zu den seit den neunziger Jahren herausragenden zeitgenössischen Choreografinnen Bulgariens, die auch pädagogisch und wissenschaftlich im In- und Ausland tätig sind, Violeta Vitanova und Stanislav Genadiev gehören der jüngsten Generationen unabhängiger Künstler an und sind Gründer des Kinesthetic Projects sowie Träger des erstmals an freie Tanzschaffende vergebenen Theaterpreises Ikar. Das Interview mit den ständigen reisenden ChoreografInnen führte Demna Dimitrova (M.A. Arts and Contemporaneity, 20th – 21st Century) von Sofia aus für uns per E-Mail

Demna Dimitrova: Wie kamt ihr mit zeitgenössischem Tanz in Kontakt und was hat ihn letztlich zu eurem Beruf gemacht?
Galina Borissova: Während ich klassischen Tanz an der Nationalen Ballettschule studierte, fühlte ich mich wie das hässliche Entlein. Diese streng kodifizierte Technik war nicht sonderlich bequem für meinen Körper, so dass ich mich nach meinem Abschluss 1985 aus rein technischen Gründen dem Erlernen von „ursprünglicheren“ und „natürlicheren“ Herangehensweisen an den Körper zuwandte. Ich begann zu improvisieren, wobei ich Formen oder die Verwendung von Techniken und Stilen mied, die Westeuropa und Amerika zu bieten hatten. Denn wenn es um das Choreografieren geht, vermeide ich eher das Verwenden von Techniken, destrukturiere und zerlege dieses ganze Wissen, um einen neuen Kontext zu erhalten, ein wenig unbequemere Tänze – schief und ungeschickt, so ist mein Tanz. Ich denke, man könnte mich als einen undefinierbaren, experimentellen Mutanten bezeichnen, der sich in seinem eigenen Milieu entwickelt, ohne sich mit den globalen Tendenzen zu vergleichen, deren Grenzen sich sowieso schon längst verwischt haben. Es wird immer schwieriger, auf die Frage zu antworten, was zeitgenössischer Tanz eigentlich ist. Nur die Naiven versuchen, sich eine Antwort darauf zu geben. Damals jedenfalls hatte Louise Bédard, eine Choreografin aus Kanada, die zu Beginn der neunziger Jahre in Bulgarien war, sehr großen Einfluss auf meine Motivation, mich weiterhin mit Tanz zu beschäftigen. Sie provozierte mich dazu, im Alter von 30 Jahren mein erstes Solo zu tanzen, weil ich bis zu jenem Augenblick hauptsächlich mit anderen zusammen gearbeitet und vor allem Gruppenprojekte realisiert hatte.
Mila Iskrenova: Mit fünf Jahren verliebte ich mich ins Ballett, als ich Margot Fonteyn in Schwanensee in Sofia sah. Damals beschloss ich, Ballerina zu werden. Später, als ich die Schule für Choreografie in Sofia abschloss, kam ich mit dem modernen Tanz in Kontakt, durch Margarita Gradečlieva, die den „Graham-Stil“ unterrichtete. Danach vertiefte sich mein Interesse ständig und ich drang immer tiefer in die Materie ein, auch durch meine Ausbildung in Deutschland in den Kölner Sommerkursen und an der Palucca Schule Dresden, in Großbritannien am Laban Centre London – und natürlich durch beeindruckende Persönlichkeiten und Inszenierungen. Eine der Hauptfiguren für mich ist Pina Bausch, die ich glücklicherweise 1998 auf dem Festival Taormina Arte in Italien 1998 kennenlernen durfte.
Violeta Vitanova und Stanislav Genadiev: Wir beide haben 2003 bzw. 2004 klassisches Ballett in der National School of Dance Art in Sofia abgeschlossen. Aber schon in der Schule spürten wir, dass der klassische Tanz nicht unser Tanz ist. Dort hatten wir das Glück, Elisaveta Jordanova kennenzulernen und mit ihr zu arbeiten. Sie war Lehrerin in so genannter „spezieller Gymnastik“, aber eigentlich war das eine Mischung aus Alexander-Technik, Yoga und Improvisation. Nach unserem Abschluss gingen wir in die Schweiz nach Lausanne, wo Stanislav in der Compagnie Linga arbeitete und Violeta ein Praktikum machte. Nach einiger Zeit kehrten wir nach Bulgarien zurück und beschlossen, unser erstes Experiment zu wagen, es trug den Namen: Imago. Dafür erhielten wir den bulgarischen Theaterpreis Ikar für das beste Debüt. Das Besondere an diesem Fall ist die Tatsache, dass ein Theaterverband zum ersten Mal eine Tanzaufführung nominierte und auszeichnete! Das brachte uns später dazu, mit der Hilfe von Živko Željazkov (Derida Dance) und Iva Sveštarova/Willy Prager (Brain Store Project) die erste Organisation für zeitgenössische performative Künste beim Verband bulgarischer Schauspieler zu gründen. Unsere Beziehung zum zeitgenössischen Tanz hat sich von selbst herausgebildet, aus unserer persönlichen Lebenserfahrung heraus.
Wonach sucht ihr in eurer choreografischen Arbeit?
M.I.: Der Tanz ist meine persönliche Frage an die Welt ... Mein komplexes Gefühl für ihn ist gleichzeitig Feststellung und Frage, es ist voller unbekannter Parameter. Im Laufe der Jahre habe ich begriffen, dass es ausreicht, sich selbst zu erforschen, um Kenntnis über die ganze Welt zu erlangen – der Tanz ist mein Spiegel des Lebens. Ich glaube, dass der Körper der „neue Tempel“ in einer neuen Religion der Zukunft sein wird, die den Gegensatz von Körperlichem und Geistigem überwindet, von Materiellem und Metaphysischem – darin liegt auch mein hauptsächliches Interesse an ihm.
V.V. & S.G.: Für uns ist der menschliche Körper ein Universum. In unserer Arbeit untersuchen und erforschen wir diese unendliche Schönheit des Mysteriums, das man „Mensch“ nennt.
G.B.: Meine Fragen ändern sich ständig, so wie ich ständig versuche, zu mutieren und mich zu verändern. Zu Beginn meiner Karriere versuchte ich, originelle Bewegungen und Gesten zu verwenden – unbequem und verdreht. Später habe ich mich für die Statik als Dynamik interessiert, die Dramaturgie der Bewegungen, der Idee ... Ich denke immer mehr, dass ich mich vom Tanz entferne, wobei ich mich auf diese Weise seinem wahren Wesen annähere – der Spontaneität und Alltäglichkeit in gewissem Sinne. Meine letzten Stücke umkreisten politische Themen und beschäftigten sich beispielsweise mit der globalen Erwärmung, dem Rentengesetz, einer Casting - Show im Fernsehen ... Diese Improvisationen sind im Prinzip mit nur wenig Recherche und Beobachtungen zum Thema verbunden. Zum Thema globale Erwärmung stellte ich zum Beispiel einander diametral entgegengesetzte Meinungen über die (un)natürlichen Veränderungen gegenüber. Am Ende leisteten auch diese Aufführungen ihren kleinen Beitrag zum Klimaschutz – durch effektives Tanzen, das ohne Schwitzen auskam!
Wie würdet ihr eure momentanen Arbeitsbedingungen beschreiben und wie beeinflussen sie eure Stücke?

G.B.: Die Bedingungen sind immer noch sehr schlecht, wenn es um einen bequemen Boden und einen warmen Saal geht, um die Dauer des Prozesses, die Instandhaltung der „Bühnen“, die gemietet werden, und die Leute dort, die festangestellt sind. Aber zu Beginn meiner Karriere hatte das keine Bedeutung. Ein junger Mensch fühlt sich viel besser, wenn er irgendwo in Foyers und Kellern, in Ecken und auf Dachböden ist. Das stimulierte uns noch mehr ... wie eine starke Droge. Aber wenn der Künstler 35 bis 45 Jahre alt wird, dann möchte er endlich würdevoll über den roten Teppich schreiten, nicht wahr? Ich habe mich nie beschwert, nicht einmal jetzt. Ich hatte die Möglichkeit, auch im Ausland zu arbeiten und die Situation mit der bei uns zu vergleichen. Immer wenn ich zurückkam, fühlte ich mich hier mehr als Emigrantin, als wenn ich nach draußen reiste.
M.I.: Zum Glück bekomme ich als Choreografin viele Aufträge und kann, besonders wenn ich für ein Theater tätig bin, unter optimalen Bedingungen arbeiten. Wenn es allerdings um meine persönlichen Projekte geht, liegen die Dinge anders, weil sie in die Kategorie „nicht-kommerzielle Kunst“ fallen und dafür so gut wie keine Mittel zur Verfügung stehen. Sogar bei meiner Arbeit mit Arabesque (der größten zeitgenössischen bulgarischen Tanzkompanie mit Sitz in Sofia, Anm. d. Red.), wo mein Budget pro Inszenierung nie größer als 2000 Leva (etwa 1000 Euro, Anm. d. Red.) war, kam es vor, dass ich Kostüme, Ausstattung usw. selbst „sponsern“ musste. Und die Verwirklichung eines Privatprojekts scheint mir absurd, wenn man die Mieten und überhaupt die notwendigen Mittel bedenkt, für die es überhaupt keine Sponsoren gibt.
V.V. & S.G.: Die Bedingungen sind in Abhängigkeit von der Spezifik der einzelnen Projekte improvisiert. Ich denke, wir haben uns bereits daran gewöhnt, sowohl Tänzer als auch Choreografen als auch Manager unserer Produkte zu sein. Natürlich kostet das schöpferische Energie, aber wenn wir überleben wollen, sind das die Bedingungen.
Im Augenblick findet in Bulgarien ein Prozess statt, den die Institutionen „Theaterreform“ nennen. Welchen Einfluss haben diese Reformen auf eure Arbeit?
V.V. & S.G.: Die letzten Informationen, die wir von Gergana Dimitrova von der Organisation 36 Monkeys (Mitglied des ACT – Verband für freies Theater) erhalten haben, lauten: „Im Moment sind wir (gemeint ist die gesamte freie Szene Bulgariens, Anm. d. Red.) nicht im Budget vorgesehen, aber man wird sich Gedanken darüber machen, nach welchen Kriterien man uns einbeziehen soll, weil die einheitlichen Ausgabenstandards, die für die Theater festgelegt worden sind, für uns nicht adäquat sind.“ Im Kultusministerium wurden als Beispiele die ungarische und deutsche Gesetzgebung im Kulturbereich herangezogen, doch unser Gesetz wird zu unserem Bedauern vermutlich weit von diesen wunderbaren Beispielen entfernt sein.
G.B.: Ich glaube, dass die Reformen von innen, nicht von außen kommen werden – von den Künstlern und nicht den Politikern. Ich arbeite seit mehr als 25 Jahren als unabhängige Choreografin, habe mehr als 30 Inszenierungen bei uns und im Ausland auf die Bühne gebracht, insgesamt mehr als 25 000 Zuschauer gehabt, acht internationale Produktionen initiiert, 23 Jahre Lehrerfahrung und zwei internationale Preise bekommen ... und wenn jeder Künstler solche Beständigkeit und Ausdauer an den Tag legt, dann wird auch die Veränderung da sein. Anfang der neunziger Jahre waren die Bedingungen viel ungünstiger. Jetzt gibt es viele Informationen, man reist ohne Visum, in Sofia hat ein Nationalwettbewerb für Choreografie stattgefunden, ungefähr viermal im Jahr organisieren wir Konzerte, wo wir auch neue Projekte junger Choreografen vorstellen, es gibt Stipendien und Weiterbildungsprogramme ... Im Augenblick ist es meine persönliche Motivation, mehr auf theoretischem Gebiet zu arbeiten als auf praktischem, auch gewisse Managementfähigkeiten an den Tag zu legen und an Debatten über die Reformen teilzunehmen, obwohl ich keine große Optimistin mehr bin, wie noch in den frühen neunziger Jahren. Damals gab es Energie, jetzt Pragmatismus.
M.I.: Für mich als Künstlerin war die erschütterndste Tatsache, dass meine Meinung absolut ignoriert wurde, als gegenstandslos und ungültig in Bezug auf die Situation. Die grundlegende These der Reform besteht in der Angleichung des Niveaus der Produktionen an den Zuschauergeschmack, was in der konkreten bulgarischen Situation ein zweischneidiges Schwert ist, besonders angesichts des Fehlens alternativer Finanzierungsquellen für die Kunst. Ich kann die zukünftige Entwicklung der Dinge nicht vorhersehen, aber momentan lastet auf mir die Forderung nach einem vollen Saal, was an und für sich eine Art kommerzielle Forderung ist und zu den entsprechenden Folgen führt.
Seid ihr der Meinung, dass der zeitgenössische Tanz in Bulgarien marginalisiert ist?
M.I.: Diese Tatsache drückt sich in der ständigen Unmöglichkeit (hauptsächlich aus Mangel an Finanzierung) aus, die Projekte zu realisieren, die mich interessieren. In den letzten zwei Jahren waren das bereits vier. Ich bin nicht in der Lage, meine Projekte selbständig zu managen, was sie zu ständigem „Nicht-Zustandekommen“ verdammt.
G.B.: Der zeitgenössische Tanz hat sehr große Kraft, und ich glaube an ein immer größer werdendes Interesse seitens des Publikums und der Kollegen. Er nimmt in Westeuropa längst einen sehr bedeutsamen Platz als Motor der Veränderungen im Theater ein, und er erreicht sogar wissenschaftliche Dimensionen. In Bulgarien ist der zeitgenössische Tanz jedoch nicht vom Massenpublikum anerkannt.
V.V. & S.G.: Der zeitgenössische Tanz in Bulgarien hat keine Tradition aufgrund der verpassten avantgardistischen und neoavantgardistischen Strömungen. Abgesehen davon, dass wir ein sehr kleines Land sind, befindet sich unsere Ausbildung nicht auf dem notwendigen Niveau. Für uns kann das aber kein Problem sein. Im Endeffekt ist Bulgarien nicht die ganze Welt. Wenn wir uns schlecht fühlen, gehen wir fort und kommen danach wieder.
Momentan muss man in Hinblick auf den zeitgenössischen Tanz feststellen, dass seine Künstler im geeigneten Augenblick – und das ist ziemlich oft – Bulgarien verlassen oder manchmal einfach nur verschwinden, indem sie aufhören, im Bereich des Tanzes zu arbeiten. Was bringt euch dazu, immer noch in Bulgarien zu arbeiten?
G.B.: Die Dummheit, die Unfähigkeit, etwas anderes zu tun, die Naivität, die gesunde Lebensweise, das Überwinden von Schwierigkeiten (wie bei einem Langstreckenlauf mit Hindernissen) und vielleicht nicht zuletzt mein Haus, das meine Rettung vor der Welt und der Hast ist.
M.I.: Die Vielfalt, die nicht erforschten Möglichkeiten, das Fehlen von zur Norm erstarrten Moden und ästhetischen Modellen, die mein Schaffen vorbestimmen würden. Zwar bleibt der wesentliche Ideengehalt für mich meistens unrealisiert, aber gleichzeitig erkenne ich, dass ich fast nirgendwo anders die Handlungsfreiheit hätte, die ich hier genieße. Deshalb ziehe ich diese Situation dem Kompromiss vor, zwar im Ausland zu sein, das aber „um jeden Preis“.
V.V. & S.G.: Das Bedürfnis, uns mit Freunden, Verwandten und Bekannten auszutauschen.
Wie erscheint euch die Situation in Bulgarien im Vergleich mit den globalen Tendenzen und Prozessen im zeitgenössischen Tanz?
V.V. & S.G.: Zurückgeblieben.
G.B.: In Schulnoten – 3,5. Ansonsten, von der erhöhten Warte meiner weißgewordenen Haare aus gesehen, scheint Bulgarien für die Dimensionen des Landes ausreichend dynamisch – aber nicht dynamisch genug, was neue Studios, Formationen und Truppen angeht. Individuell entwickelt sich jeder für sich und nach seinen Möglichkeiten. Aber die Idee von kollektiven Bemühungen, um ein paar undurchdringliche Mauern umzustoßen, ist immer noch unverwirklicht.
M.I.: Bulgarien hat für mich immer wie ein nicht erschlossenes Gebiet ausgesehen, ein ungenutztes Reservoir an Ideen und Talenten. Es gibt viele Umstände, einschließlich des Fehlens einer reichen Tradition, die dazu beitragen. Aber im Gegenzug sind die Persönlichkeiten, die in Erscheinung treten, ausgesprochen interessant und originell.
Besitzen die Ideen und die Ästhetik im zeitgenössischen Tanz in Bulgarien irgendeinen gemeinsamen Rahmen? Gibt es zum Beispiel eine gemeinsame Grundlage, eine veröffentlichte Geschichte des Tanzes, eine Zeitschrift, ein öffentlicher Diskurs etc. in Bulgarien?
V.V. & S.G.: Nein.
M.I.: Ich finde keinen solchen Rahmen. Bedauerlicherweise werden die Künstler fast vollständig allein gelassen – ohne Kommentar, ohne Erforschung, ohne theoretisches Interesse ... In Bulgarien gibt es nicht eine einzige Zeitschrift über Tanz. Vor einem Jahr erschien eine Ausgabe von Art and Dance, und damit war es auch schon wieder vorbei. Das ist auch der Grund, warum ich es mir erlaube, über den Tanz zu schreiben; in den letzten Jahren jedoch habe ich diese Beschäftigung vernachlässigt, hauptsächlich aus Zeitmangel.
G.B.: Alle zehn Jahre gibt es eine neue Generation von Künstlern. In den achtziger Jahren waren es Studio Ek und das Ballett Arabesque. In den neunziger Jahren wurden die meisten Leute aus meiner Klasse zu Emigranten und gingen fort. Danach, im Jahre 2000, bildete sich eine Generation heraus, die sich in den Grenzformen positionierte, sie vermischt sie und leugnet bisweilen die Vergangenheit – wie jeder, der sich abgrenzen will, ist sie unversöhnlich und ungeduldig. Das scheint mir nur natürlich zu sein. Aber vielleicht werden in zehn Jahren einige der wichtigen Ereignisse im Bereich des Tanzes vergessen sein: der Wettbewerb der Stiftung Humarts, das Festival Antistatic von Brain Store Project und ihre Nomad Dance Academy und jetzt auch die von der Stiftung ETUD organisierten Konzerte. Wenn wir nicht lernen, unsere Vergangenheit zu schätzen, dann haben wir kein Recht auf eine Gegenwart. Aber wie soll man das einer Generation weitergeben, die durch ihre eigene Welt eilt?
Auf welchem Niveau befindet sich die Kritik im Bereich des zeitgenössischen Tanzes?
G.B.: Es gibt vier bis fünf Namen, die hauptsächlich aus der Theaterkritik kommen. Sie schreiben mehr über uns als die Ballettkritiker, die sich dem zeitgenössischen Tanz gegenüber als konservativer eingestellt erweisen. Aber die besten Kritiken entstehen meiner Meinung nach dann, wenn die Choreografen sich selbst rezensieren und kritisieren. Dann wird ihr Projekt gleichzeitig verständlicher.
M.I.: Qualitativ hochwertig beschäftigt sich mit dem Tanz das Magazin Neue Dramaturgien (Mira Marjanova und Angelina Georgieva) sowie Petăr Plamenov, der selbständig schreibt. Aber ihre Texte werden hauptsächlich übers Internet verbreitet und das nicht völlig regelmäßig. Sonst sind sie auf hohem intellektuellem und analytischem Niveau.
Zwei Festivals des zeitgenössischen Tanzes wurden in den letzten Jahren ins Leben gerufen – die Sofia Dance Week und Antistatic. Ersteres ist eines der erfolgreichsten Festivals überhaupt in Bulgarien. Habt ihr nicht den Eindruck, dass das Publikum vom zeitgenössischen Tanz stark angezogen wird?
G.B.: Beide Festivals haben grundlegend verschiedene Plattformen und Ausrichtungen. Das größere Festival zeigt mehr etablierte Truppen, während Antistatic eher eigenwillige und provokante, umstrittene Inszenierungen einlädt. Es wäre für beide Festivals notwendig, dass sie jährlich durchgeführt werden, und ich hoffe auf ihre Fortführung.
M.I.: Ja, die Säle sind während der Festivals voll, sie erfreuen sich großen Publikumsinteresses. Aber man darf nicht vergessen, dass dies an einigen wenigen Tagen im Jahr passiert und dass jede Inszenierung – dabei handelt es sich um Gastspiele – nicht öfter als zwei Mal aufgeführt wird. Das bedeutet mitnichten, dass es ein ständiges und anhaltendes Interesse von Seiten des Publikums gibt und dass es überhaupt ein ständiges Publikum für zeitgenössischen Tanz gibt. Zweifellos haben die Festivals eine sehr große Bedeutung für die Gewinnung und Aufklärung des Publikums, das sonst nur ziemlich zufällig mit dieser Kunst in Berührung kommt.
V.V. & S.G.: Der zeitgenössische Tanz ist eine abstrakte und für die Vorstellungskraft offene Kunst. Darauf ist es unserer Meinung nach zurückzuführen, dass er sich großen Interesses von Seiten des Publikums erfreut. Vielleicht ist der Zuschauer müde von der Konkretheit der Worte im Theater und im Kino. Vielleicht erfreuen sich diese Festivals großen Interesses, weil sie etwas Neues sind ... Die Zeit wird es zeigen.
Ist das nicht eine sehr widersprüchliche Situation – Publikum ist vorhanden, aber eine staatliche Politik in diese Richtung gibt es nicht?
V.V. & S.G.: Wir leben in der Politik der Absurdität und in einem „Dschungel“.
M.I.: Ich werde mir erlauben, etwas ziemlich Gewagtes zu sagen: Publikum für zeitgenössischen Tanz gibt es in Bulgarien so viel, wie es Demokratie gibt – dasselbe gilt auch für die staatliche Politik.
G.B.: Der Tanz war immer eine unselbständige Einheit. Entweder wird er den Abteilungen für Musik zugeschrieben oder dem Theater und der Oper, oder er wird einfach ignoriert. Und deshalb, scheint mir, sind nicht die Regierenden schuld, sondern diejenigen, die sich still verhalten und gehorchen. Einzig sie haben eine Chance auf Initiative und Öffentlichkeit, wenn sie Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und ein wenig Verrücktheit besitzen. Und als Kollektiv – so sehr mir dieses Wort auch missfällt – kann man noch etwas ausrichten.
Wie würde euer „Tanz des Protests“ aussehen?
M.I.: Die Tatsache selbst, dass dieses Thema mich immer noch so sehr bewegt in einem so deprimierenden Kontext, ist eine Art Protest. Ich würde mein Projekt „Freiheit in Flipflops“ nennen, was auch immer das bedeuten mag ...
G.B.: Schweigen und die lange Abwesenheit. Und danach eine Haiku-Erscheinung ... langsam und gedehnt, durch Strecken des Rückgrats wie eine Katze nach dem Schlaf. Das einzige, dem ich nicht untreu werden kann, ist mein Körper und entsprechend der Tanz.
V.V. & S.G.: „Open Air Anti Dance“.

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